St. Panayotakis: ‚The Story of Apollonius, King of Tyre‘

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Titel
‚The Story of Apollonius, King of Tyre‘. A Commentary


Autor(en)
Panayotakis, Stelios
Reihe
Texte und Kommentare 38
Erschienen
Berlin 2012: de Gruyter
Anzahl Seiten
X, 682 S.
Preis
€ 129,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Peter Habermehl, Theologische Fakultät, Humboldt-Universität zu Berlin

In mehr als einer Hinsicht erinnert die lateinische Historia Apollonii regis Tyri an den Alexanderroman. Beide Texte sind anonym auf uns gekommen, und beide wurden von Anfang an ‚kreativ‘ rezipiert: jeweils mehrere Versionen in verschiedenen Sprachen sind überliefert, die sprachlich wie inhaltlich zum Teil markant voneinander abweichen. Im Fall der Historia Apollonii regis Tyri datieren die beiden frühsten Fassungen, ‚rec. A‘ und ‚rec. B‘, mutmaßlich ins 5./6. Jahrhundert n.Chr.; umstritten ist die Frage, ob ihnen ein verlorenes, zwei, drei Jahrhunderte älteres Original auf Griechisch zugrunde lag.

Besonderer Wertschätzung erfreut sich zu Recht die ‚rec. A‘, die in jüngerer Zeit nicht nur wiederholt ediert, sondern gleich dreimal kommentiert wurde.1 Dass ein vierter Anlauf dennoch Sinn macht, belegt Panayotakis’ philologisch-literarisch ausgerichtete Arbeit mit jeder Seite. Er sieht in der ‚rec. A‘ eine Erzählung sui iuris, die vor dem Hintergrund der zeitgenössischen spätantiken Kunst und Kultur zu lesen sei und in der sich die angeblichen Gegensätze, von denen die einschlägige Sekundärliteratur ausgeht – Latein und Griechisch, pagan und christlich, raffiniert und naiv –, harmonisch verbinden.

Die knappe Einführung referiert den aktuellen Forschungsstand. Thema sind unter anderem der anonyme Autor und der olympische, gelegentlich Partei ergreifende Erzähler, aber auch die Struktur der Erzählung, die überraschend unterschiedlich seziert wurde (wie Panayotakis aufzeigt, sind die einzelnen Handlungsstränge enger miteinander verflochten, als manche artifizielle Trennung dies wahrhaben will), oder wiederkehrende Leitmotive wie Inzest, Bildung, Königtum, Rätsel und der etwas dunkle, von Panayotakis ins Spiel gebrachte Begriff der ‚Reziprozität‘ („reciprocity“ im Sinne von ‚wechselseitige Beziehungen‘; vgl. S. 3).

Anschaulich abgehandelt wird die Topographie der Geschichte. Auf der Landkarte der Historia Apollonii regis Tyri erscheinen etliche berühmte Städte, die nicht nur im griechischen Roman eine Rolle spielen, sondern auch in Philostrats Apollonios von Tyana und bei Paulus.2 Das Genre des Textes lässt Panayotakis offen. Außer Frage steht, dass die Historia Apollonii regis Tyri wie etliche fiktive Texte der Kaiserzeit aus einer Vielzahl literarischer Quellen schöpft (so aus Epos und Drama, besonders aus Komödie und Mimus, aber auch aus Roman, Rhetorik und Hagiographie) und dass ihr Verfasser, wie Panayotakis detailliert belegt, mit einer ganzen Reihe römischer Autoren vertraut war (vor allem Cicero, Vitruv, Seneca und vermutlich auch Apuleius).

Hellhörig filtert Panayotakis die vielen biblischen Echos heraus, die im Text anklingen. Doch den alten Streit, ob der Autor pagan oder christlich war, lässt er hinter sich.3 Seiner einleuchtenden These zufolge fehlt dem Text ein klares religiöses Bekenntnis. Die paganen, jüdischen und vor allem christlichen Elemente in der Historia Apollonii regis Tyri zeugten vielmehr vom literarischen Ehrgeiz eines Autors, der seine Belesenheit im Kosmos des spätantiken Schrifttums zur Schau stelle und sich auf ein unterhaltsames Spiel mit seinen gebildeten Lesern einlasse. Für diese These spricht übrigens auch die zentrale Rolle der Rätsel in dem Text.4

Dass der Autor ebenfalls mit der griechischen Sprache vertraut war, besonders mit Homer und dem Liebesroman, belegt eine ganze Reihe von Gräzismen. Manche Exegeten sehen in ihnen ein klares Indiz für eine griechische Vorlage des Textes; anders Panayotakis: Er unterscheidet nicht nur sauber zwischen lexikalischen und syntaktischen Gräzismen, sondern vergleicht auch verwandte Phänomene in der lateinischen Literatur allgemein und in Texten, die nachweislich aus dem Griechischen übersetzt sind. Sein klares Fazit lautet: „Neither the analysis on a lexical level nor the discussion in issues of syntax can be convincingly employed to prove the existence of a Greek model“. (S. 9)

Panayotakis’ Lesetext basiert auf Kortekaas’ maßgeblicher Edition5, weicht dabei aber an fast 130 Stellen von Kortekaas ab (vgl. die Liste S. 12–15). Ein Wort verdienen Panayotakis’ zwölf eigene Eingriffe in den Text – mitunter sind es nur Kleinigkeiten: um Orthographie geht es in 10,7; in 39,12 ergänzt er ein ait; in 21,1 setzt er den Ablativus absolutus moderner Editoren in den gefälligeren Singular perlecto codicillo. Manches geht aber einen Schritt weiter: In 48,12 schreibt Panayotakis statt rex nomine mit klassischen Parallelen regis nomine („by the title of prince“); in 13,7 tilgt er mit soliden Argumenten vel pueris; in 43,1 übernimmt er mit cincta den Text der ‚rec. B‘ und der Anthologia Latina, in der das Rätsel ebenfalls überliefert ist; in 25,5 vereint er die beiden Lesarten der Handschriften, pie bzw. impio, mit sicherer Hand zu <im>pie. Die glückliche Umstellung in 25,7 <et> unguibus [et], die dem Trauerritual erst den rechten Sinn verleiht, ist im Grunde so evident, dass man sich unweigerlich fragt, warum niemand vor ihm auf die Lösung kam.

Auch vier genuin eigene Konjekturen setzt Panayotakis in den Text. In 50,9 erweitert er das überlieferte imo corpore contremuit elegant zu <toto an>imo, corpore contremuit.6 In 26,12 hat das unsinnige per unctionem für viel Kopfzerbrechen gesorgt. Panayotakis bringt mit per ustionem das seltene ustio in der nur vereinzelt bezeugten Sonderbedeutung ‚beißende Kälte‘ ins Spiel – ein nicht nur paläographisch attraktiver Vorschlag. Zu 39,12 bietet er für das problematische und viel emendierte munere (tam utilem inter nos munere elegisti nisi me?) die verlockende Alternative nullum, ere (sinngemäß: „Ausgerechnet mich hast du unter uns als Helfer ausgewählt, Herr?“). Überzeugend ist sein Einfall für das überlieferte austris ventorum flatibus (25,5): adversis ventorum flatibus.

Das Kernstück des Bandes bildet erwartungsgemäß der Kommentar, der die erwähnten Vorgänger nicht nur an Umfang (auf jede Seite Lesetext kommen gut 20 Seiten Erläuterungen), sondern auch an Anspruch und Qualität deutlich übertrifft.7 Gerade der komplexen Grammatik des spätantiken Lateins widmet Panayotakis die gebührende Aufmerksamkeit und erklärt detailliert exotische Konstruktionen wie etwa den Genetivus qualitatis exempli pauperrime (8,12), den Nominativus absolutus ingressus Apollonius triclinium ait ad eum rex (14,6) oder das adversative nam in 39,13. Keines der Stilmittel, von denen die Historia Apollonii regis Tyri reichen Gebrauch macht, entgeht ihm. Ein eindrucksvolles Beispiel liefert das leitmotivische Spiel mit den Silben re, se und puta in 8,11: REvocari ad SE SEnem … REm fecisti … pro qua RE REPUTA … caPUT A cervicibus amPUTAsse.

Auch die Realien kommen nicht zu kurz. Wenn Apollonius in 8,4 arrogant einem einfachen Mann aus dem Volk den Gruß verweigert, sieht Panayotakis hier als historischen Hintergrund die Verachtung römischer Patrizier für die Plebs und dokumentiert den Punkt sattsam aus den Quellen von Plautus über Martial bis hin zu den Predigten Augustins (S. 139–141). Exquisit analysiert er Apollonius’ selbstverliebten Auftritt als Künstler (16,14), der nach dem Vorbild römischer Bühnenprofis in gleich drei Kunstformen brilliere: als Sänger (lyristes), Pantomime (comoedus) und dramatischer Rezitator (tragoedus; S. 247). Athenagoras’ augenzwinkernden Kommentar im Bordell, „usque ad lacrimas!“ (34,9), deutet Panayotakis schlagend als scherzhafte Anspielung auf den Samenerguss (S. 435).8

Anerkennung verdient vor allem, wie viele literarische Bezüge Panayotakis entdeckt hat, die früheren Interpreten entgangen waren. Sie alle legen beredt Zeugnis ab für eine stupende Belesenheit in den griechischen und römischen Primärtexten bis weit in die Spätantike. Drei, vier Beispiele mögen genügen: 9,6 finibus vestris applicuit entpuppt sich als diskreter Verweis auf Vergil (Aen. 1,616 quae vis immanibus applicat oris?; S. 156). Das Vorbild für die Szene 24,4 liefert die Anagnorisis zwischen Elektra und Orest in Sophokles’ Elektra (S. 304). Der erotisch knisternde Moment, als ein junger Medizinstudent Apollonius’ scheintote Frau untersucht und reanimiert, ist inspiriert von Ovids Pygmalion, der seine Frauenstatue zum Leben erweckt (26,10; S. 340f.). Eine besondere Entdeckung gelingt Panayotakis in dem unappetitlichen Bieterkrieg zwischen Athenagoras und dem Zuhälter um die junge Tarsia (33,5): eine Anspielung auf das biblische Gleichnis vom Kaufmann und der Perle (Matth. 13,45f.). Ihm zufolge lasse sie sich durchaus als Botschaft lesen: der ‚weltliche‘ Athenagoras „is as yet unworthy of the heavenly Tarsia“ (S. 422).

Die 15 Jahre Arbeit, die in den Band geflossen sind (angekündigt wurde er 1998 im Gnomon), haben sich mehr als bezahlt gemacht. Panayotakis gibt dem Benutzer eine mitunter fast erschlagende Fülle abgewogener und ausgereifter Informationen an die Hand, die die Lektüre auf Schritt und Tritt fördern. Seinen exquisiten Kommentar werden nicht nur Sprachwissenschaftler, sondern auch alle mit Gewinn studieren, die sich für den antiken Roman erwärmen. Es ist, kurz gesagt, das beste Buch, das der charmanten Historia Apollonii regis Tyri je gewidmet worden ist. Aficionados werden bedenkenlos zuschlagen.

Anmerkungen:
1 David Konstan / Michael Roberts, Historia Apollonii regis Tyri, Bryn Mawr 1985; Georgius A. A. Kortekaas, Commentary on the Historia Apollonii regis Tyri, Leiden 2007 (mit rec. B); Giovanni Garbugino, La storia di Apollonio re di Tiro. Introduzione, testo critico, traduzione e note, Alessandria 2010.
2 Auffällig genug reisen die Protagonisten grundsätzlich zur See.
3 Für ersteres könnten Szenen wie das Neptunfest (39,2) oder die Artemis von Ephesos (48,15) sprechen, für letzteres etwa die biblischen Formeln und die Versatzstücke frühchristlichen Lateins.
4 Zu Kap. 42 lohnte ein Verweis auf den berühmten Rätselstreit zwischen Bilbo und Gollum in J.R.R. Tolkiens „The Hobbit“ (1937).
5 Georgius A. A. Kortekaas, The story of Apollonius King of Tyre. A study of its Greek origin and an edition of the two oldest Latin recensions, Leiden 2004.
6 Im Kommentar zur Stelle mildert er die asyndetische Härte zu <toto an>imo <et> corpore contremuit.
7 Er wird von mehreren Registern vorzüglich erschlossen.
8 Das Motiv kehrt m.E. in der Folgeszene wieder (35,1 „non habuisti, cui lacrimas tuas propinares!“, also „Gab es niemanden, bei dem du deine ‚Tränen‘ losgeworden bist?“), ohne dass Panayotakis den Zusammenhang herstellt.

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